Bevor irgendwelche Missverständnisse aufkommen: Dies hier ist keine Liebesgeschichte, nicht mal eine Liebeserklärung, sondern die vorsichtige Annäherung an ein literarisches Trope. Ursprünglich hatte ich nicht mal gedacht, den Begriff erklären zu müssen, aber nachdem in einer Unterhaltung zwischen Kolleginnen gefragt wurde: Der Begriff „Mary Sue“ stammt ursprünglich aus der Fanfiction-Szene und bezeichnet eine übermäßig perfekte weibliche Figur.
Eine Mary Sue kann grundsätzlich alles. Ihr Charakter ist engelgleich, denn auch wenn sie eine unbesiegbare Kämpferin, magisch begabt, wundersam musikalisch, zum niederknien klug, eine begnadete Köchin, über die Maßen schön und gnadenlos gut ist, ist sie doch nicht im geringsten eingebildet. Nie würde sie Aufhebens um ihren perfekten Teint machen, um die großen Augen, die seidigen Haare oder die weiche Haut. Das ist schließlich alles naturgegeben. Sie bemerkt es genauso wenig wie die perfekten Brüste, die langen Beine, die ideale Taille oder den zum Küssen einladende Mund. Sie versteht nicht einmal, was die anderen Figuren an ihr bemerkenswert finden. Sie selbst findet sich nämlich eher durchschnittlich.

Und weil die Mary Sue sich selber für durchschnittlich hält, ist sie selbstverständlich auch nicht eingebildet. Im Gegenteil: Sie ist der offenste, unvoreingenommenste Mensch, den sich die Autorin überhaupt vorstellen kann. Wenn ihre Mary Sue einen Charakterfehler hat, dann einen harmlosen. Zum Beispiel, dass sie nicht singen kann. Vielleicht ist sie auch ein Tolpatsch – aber von der liebenswerten Art. Jemand, der höchstens kleine Dinge von zweifelhaftem Wert zerstört; nie etwas wirklich Teures, das anderen etwas bedeutet. Ein anderer Charakterfehler könnte sein, dass sie ständig isst. Natürlich nur moralisch einwand- und kalorienfreie Dinge. Äpfel zum Beispiel oder Karotten. Keinesfalls würde sich eine Mary Sue in Exzesse aus Schokolade, Chips oder Alkohol stürzen. Nie würde sie auch nur ein Gramm Fett zu viel ansetzen. Und selbstverständlich ist eine Mary Sue nie so besoffen, dass sie lallend bei der Laterne entschuldigt, die sie eben noch vollgekotzt hat.
Großzügig, großmütig, klug, begabt und schön, wie die Mary Sue ist, ist sie natürlich auch ungemein beliebt. Ihr Charme bezaubert Jedermann und sogar manche Frauen, obwohl bei Frauen gewisse Rivalitäten entstehen können. Hier kann es sogar zu Eifersüchteleien kommen (die aber selbstverständlich nie von Mary Sue ausgehen, sondern immer von der Gegenspielerin und die immer unbegründet sind!). Es sind diese Rivalinnen, die dem Lebensglück der Mary Sue im Weg stehen, wobei die besseren von ihnen am Ende bekehrt und zu guten Freundinnen werden, während die anderen ihrer gerechten Strafe entgegensehen. Die bösen Stiefschwestern von Aschenputtel lassen grüßen.

Kurzum: Mary Sues sind wandelnde Wunschträume. Sie verkörpern das ideale Ich der Schreiberin* (also ihr Selbst, wie es wäre, wenn nicht Gesellschaft, Natur und Schwerkraft sich gegen sie verbündet und sie in diesen höchst unzureichenden Körper gesetzt und in dieser unzulänglichen Umgebung ihrem faden Schicksal überlassen hätten).
Das ist die eine Seite.
Auf der anderen Seite ist die Mary Sue eines der am meisten gehassten Tropes. So beliebt sie innerhalb ihrer eigenen Geschichte ist, so unbeliebt ist sie außerhalb.
Eigentlich seltsam, wenn man genauer darüber nachdenkt. Im Grunde verkörpern Mary Sues nämlich sämtliche sogenannten weiblichen Tugenden und erfüllen außerdem noch den Imperativ, dass die Heldin anders sein muss als andere Frauen. Besser. Schöner. Nicht eingebildet. Nicht um ihre Schönheit besorgt. Eben nicht so frauentypisch.
Eigentlich macht die Mary Sue also alles richtig. Trotzdem mag sie keine*r außer ihrer Schöpferin. Schon merkwürdig, oder?
Noch merkwürdiger wird es, wenn man sie mit ihrem männlichen Gegenstück dem Gary Stue vergleicht. Gary Stues sind genauso klischeehaft wie Mary Sues – nur eben was männliche Rollenerwartungen angeht. Mit anderen Worten: Gary Stue ist selbstverständlich gut aussehend, mit markantem Kinn und Waschbrettbauch gesegnet. Er verfügt mindestens über ein gutes Einkommen, ohne viel dafür tun zu müssen. Er ist Experte in irgendwas wie Karate, Hochfinanz oder altsumererische Liebeslyrik – nur bitte keine profanen Dinge, bei denen man sich vielleicht noch die Hände schmutzig macht. Er nimmt sich was er will, hat ständig Sex, fährt schnelle Autos und lebt gefährlich. Ein Leben auf der Überholspur, um das ihn andere Männer beneiden und für das ihn Frauen bewundern.
Kommt dir der Typ bekannt vor? Richtig. James Bond, Triple X, Robert Langdon und praktisch jeder Superheld sind Gary Stues. Wort und Bild gewordene feuchte Männerträume. Und sie sind beliebt. Ach was – sie sind Megastars.
Warum eigentlich?
Meines Erachtens wird es höchste Zeit, beide gleich zu behandeln. Das heißt konkret: Weniger Aufmerksamkeit für die Gary Stues und etwas mehr Liebe für die Mary Sues.
Was meinst du? Die Kommentare sind offen. Ich freue mich auf eine lebhafte Diskussion.
*Ich habe hier ganz bewusst die weibliche Form gewählt, denn zumindest mir ist noch keine Mary Sue untergekommen, die nicht von einer Frau geschrieben wurde.