„Schreib doch mal über starke Frauen“ hieß es neulich auf Twitter, als ich darüber klagte, mal wieder bloggen zu müssen, aber kein Thema zu haben. Interessanter Weise kam der Vorschlag von einem Mann. Andererseits ist das vielleicht sogar sehr nachvollziehbar, denn eins ist sicher: Die Forderung nach starken Frauencharakteren ist universell. Im Bereich historischer Roman war es (wenigstens zeitweilig, wie es aktuell aussieht, weiß ich nicht) die Voraussetzung für einen Verlagsvertrag, dass wenigstens eine wichtige Nebenrolle mit einer „starken Frau“ besetzt wird. Noch besser die Hauptfigur, natürlich. Nicht umsonst beginnen so viele Buchtitel mit dem Artikel „die“.

Was aber ist nun die ominöse „starke Frau“? Wenn ich mir die Frauencharaktere in historischen Romane ansehe, gehen die Meinung der Verlage und meine eigene Auffassung in diesem Punkt sehr weit auseinander.
Guckt man sich die mit „starke Frau“ beworbenen Bücher näher an, ist nach Meinung der Verlage anscheinend essenziell, dass besagte Frau:
- unverschuldet in eine Notlage gerät, zu Unrecht verfolgt wird, gegen ihren Willen verheiratet werden soll – aber in jedem Fall sehr unter den gegebenen Verhältnissen leidet,
- viele schlimme Dinge durchmachen muss, bis sie
- am Ende des Buchs mit ihrem Herzallerliebsten (wieder)vereint ist.
Nach Möglichkeit hat besagte Frau auch noch eine besondere Gabe, die sie aus der Masse hervorhebt (gern genommen sind heilende Hände, seherische oder andere paranormale Fähigkeiten), die ihr aber missgönnt werden, so dass sie bei Nachbarn, Kirche und Obrigkeit gleichermaßen verhasst ist, obwohl sie ihre Kräfte doch nur für das Gute, Schöne und Wahre einsetzt.

Eigentlich hat dieser Charakter alles, was es braucht, um „stark“ zu sein: eine rebellische Grundhaltung, teilweise sogar ein konkretes Ziel wie „Die Pilgerin“, die das Herz ihres verstorbenen Vaters in Santiago de Compostela beerdigen will, dazu noch spezielle Fähigkeiten … Was will man also mehr?
Das Problem bei all‘ diesen Damen ist, dass sie trotz ihrer rebellischen Grundhaltung, ihrer Ziele und tollen Fähigkeiten nicht aktiv handeln, sondern sich so lange herumschubsen lassen, bis sie jemand kommt, der sie rettet. Jeder Versuch, das aus eigener Kraft zu schaffen, endet unweigerlich damit, dass alles noch schlimmer wird.*
Was einem hier als „starke Frauen“ verkauft wird, ist damit in Wahrheit ein Etikettenschwindel. Tatsächlich gehören diese Charaktere zum Typus der verfolgten Unschuld oder, um den vielleicht bekannteren Begriff zu nehmen, der Damsel in Distress. Dieser Typus zeichnet sich in erster Linie dadurch aus, dass gerade die Leidensfähigkeit der „Heldin“ belohnt wird.

Nun kann man einwenden, das Mittelalter, die frühe Neuzeit oder meinetwegen auch das Neolitikum „sei eben so“ gewesen. Männer seien nun mal stärker und mächtiger gewesen und hätten das auch ausgenutzt, während Frauen zu allen Zeiten die armen, der Willkür ausgesetzten, unterdrückten Opfer gewesen seien.
Diese Behauptung hat einen gewissen Wahrheitsgehalt (auch, wenn wir über das Neolithikum nicht genug wissen, um dessen Größe beurteilen zu können). Aber das ist noch lange kein Grund, solche Geschichten mit ebendiesen Charakteren zu schreiben.
Das geht nicht? Aber sicher geht das!

In Jane Austens Romanen gibt es nur eine einzige Protagonistin, die zum Typ der Damsel in Distress gehört – und das ist eine bitterböse Parodie (Northanger Abbey). Alle anderen Protagonistinnen gestalten ihr Leben selber – trotz aller Beschränkungen, die ihnen Stand und Zeit zumuten, zupackend und aktiv.
Das Gleiche gilt für Jane Eyre im gleichnamigen Roman von Charlotte Brontë. Obwohl als hochromantischer Schauerroman angelegt, kämpft die Protagonistin sehr aktiv für ihre Freiheit und Selbstbestimmung.
Oder gehen wir noch weiter zurück zum Nibelungenlied. Auch hier sind es Frauen, die die Story am Laufen halten. Allerdings wäre es unfair, den Konflikt allein auf den Machtkampf zwischen Brunhilde und Krimhild zu reduzieren. Hier spielen noch ganz andere Faktoren mit. Aber beide Frauen lassen die versammelten Männer (abgesehen von Hagen) blass aussehen.
Alle diese Geschichten haben trotz ihrer Verschiedenheit eins gemeinsam: Sie zeigen, dass es möglich ist, auch innerhalb der Grenzen, die eine Gesellschaft auferlegt, starke Charaktere zu enwickeln. Daher gibt es überhaupt keinen Grund, das heute nicht mehr zu tun. Noch weniger gibt es einen Grund, die Damsel in Distress als „starke Frau“ und Rolemodell für die Gegenwart zu verkaufen.

„Ok“, sagst du. „Aber was ist denn nun eine starke Frau? Wie schreibe ich einen starken Frauencharakter?“
Ganz ehrlich? Genau wie einen Mann. Mit Ecken, Kanten, Stärken und Schwächen, vor allem aber mit einem Ziel, für das sie alles gibt. Es ist nicht wichtig, ob dieses Ziel darin besteht, die Welt zu retten, die beste Nudelsuppe von Tokio zu kochen oder einen Mann für die beste Freundin zu finden. Wichtig ist, dass sie ihre Energie auf dieses Ziel ausrichtet und mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln darum kämpft. Das können Tränen sein, Fäuste, Manipulation und Maschinenpistolen. Genau wie bei einem Mann.

Damit meine ich durchaus nicht, dass die Ziele „männlich“ sein müssen. Rebellion gegen die vorgesehene Rolle ist kein Muss, sondern inzwischen fast Klischee.
Dieses Rebellions-Klischee ist natürlich Quatsch. Gerade ein adeliges Fräulein darf durchaus mit ihrem Leben rundum zufrieden sein. Trotzdem kann kann sie politische Intrigen schmieden und dadurch ein starker Charakter werden. Genauso könnte sie das Ziel haben, eine besondere Kostbarkeit in ihren Besitz zu bringen, um eine Konkurrentin auszustechen oder einem Gegner eins auszuwischen. Schließlich käme auch niemand auf die Idee, den „starken Mann“ darüber zu definieren, dass er, obwohl zum Krieger bestimmt, unbedingt Sticken und Häkeln lernen will oder eine Arztkarriere sausen lässt, um von zuhause aus einen Etsy-Shop mit selbstgekochten Marmeladen zu betreiben. **
Eine starke Frau braucht auch keine Superkräfte oder besondere Gaben. Sie braucht nur das, was jeder gute Protagonist auch braucht: Zielstrebigkeit. Während sie ihre Ziele verfolgt, kann die starke Frau die Liebe ihres Lebens treffen oder verlieren. Sie kann am Ende gewinnen, auf dem Scheiterhaufen enden oder einsehen, dass sie totalen Mist gebaut hat. Hauptsache, sie zieht ihr Ding durch. Mit allen Konsequenzen.

Tatsächlich ist es bei meinen Geschichten oft sogar zufällig, ob ein Charakter nun männlich oder weiblich wird. Beim Fluch des Spielmanns war die Geschlechterverteilung durch die Skelettfunde vorgegeben. Aber wenn Dryaden nicht grundsätzlich weiblich wären, könnte Velona aus O Tannenbaum genauso männlich sein, wie Dejasir aus Steppenbrand eine Frau hätte werden können. Er wäre dann vermutlich als Amazonenanführerin durchgegangen, was auch keinesfalls verkehrt gewesen wäre. So assoziieren die Leser eher Dschingis Khan und die goldene Horde.
Lediglich Silke (aus Biss zum letzten Akt) musste eine Frau werden. Das ist aber vor allem der Methodik ihres Vorgehens geschuldet. Als Mann hätte sie andere Möglichkeiten gehabt und genutzt.
Ich hoffe, es ist klar geworden, was ich unter einer „starken Frau“ verstehe. Jetzt du dran: Wie ist deine Sichtweise?
* Das ist übrigens ein Punkt, der auch auf viele Figuren in der Romantasy zutrifft und leider besonders im Bereich Young Adult und New Adult.
** Albern? Nein, überhaupt nicht. Das Beispiel zeigt nur, wie sehr „typisch männliche“ Tätigkeiten überhöht und „typisch weibliche“ marginalisiert werden. Für einen starken Charakter ist aber nicht ausschlaggebend, wie Außenstehende diese Tätigkeit beurteilen. Für ihn oder sie ist zunächst nur wichtig, was er/sie davon hält.
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Dieser Beitrag war mal wieder unglaublich schwer zu illustrieren. Zwar gibt es auf pixabay nahezu unendlich viele Bilder zum Stichwort „Frau“, aber kaum solche, auf denen Frauen nicht in Flüssen, Wiesen oder Wäldern rumliegen, verträumt in die Gegend starren und/oder signalisieren, dass sie dringend gefickt werden wollen.